Alle vergangenen Regierungen, wie die jetzige auch, haben genauso gehandelt, als ihre Inkompetenz und ihr Versagen offensichtlich wurden:
Sie posaunten: „Einheit und Solidarität!“
Der Vorschlag der „nationalen Einheit und Solidarität“ ist eine klassische türkische Art und Weise zu sagen:
„Kritisiere mich nicht für das, was passiert ist!“
Nach dem Erdbeben in der Region, in der fünfzehn Millionen Menschen leben, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan: „Als Land und als Nation werden wir diese katastrophalen Tage hoffentlich in Einigkeit und Solidarität hinter uns lassen. Heute ist der Tag, an dem 85 Millionen Menschen ein Herz und eine Seele sind.“
Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, der alte „Graue Wolf“, der Juniorpartner des amtierenden Regierungsbündnisses, sagte: „Dies ist kein Tag, um Zeit mit unnötiger Polemik und Unterscheidungen zwischen Ihnen und mir zu verschwenden. Dieser Tag ist der Tag, um vereint zu sein, um zusammen zu sein.“
Ich bin es gewohnt, dass diejenigen, die das Land regieren, immer nach solchen Tagen der Katastrophen und Kriege Reden über „nationale Einheit und Solidarität“ schwenken.
Aber nur zwei Tage bevor der Präsident sagte, dass „wir die nationale Einheit mehr denn je brauchen“, hatte er verkündet: „Lasst uns sie so hart schlagen, dass sie nie wieder in der Lage sein können, sich aufzurichten“. Damit meinte Erdogan die Opposition, denn der Präsident befindet sich seit langem im Wahlkampf.
Zwei Tage vor der Katastrophe fühlte er sich anscheinend noch stark.
Achtzehnstunden nach dem Erdbeben ließ der Präsident sogar die kurdischen Regionen in Syrien mit Bomben belegen.
Heute sagt er, dass wir nationale Einheit und Solidarität brauchen, weil ihm klar ist, dass er diese Situation nicht bewältigen kann.
Das ist nicht neu und der türkische Präsident ist kein Unikum in der türkischen Geschichte.
Das gleiche Geschwätz habe 1999 nach dem Erdbeben am Marmarameer gehört. Ich war als Journalist wenige Stunden nach dem Beben dort, und hörte aus dem Munde der Politiker ein ähnliches Geschwätz. Damals regierte noch Ecevit als Ministerpräsident.
Alle vergangenen Regierungen, genau wie die heutige, haben das Gleiche gebraucht, als ihre Inkompetenz und ihr Versagen offensichtlich wurden: „Einigkeit und Solidarität!“
Die Andeutung von „nationaler Einheit und Solidarität“ ist die türkische Art und Weise zu sagen: „Kritisiere mich nicht für das, was passiert ist!“
Nach dem Erdbeben 1999 antwortete der damalige Präsident Demirel den Journalisten, die ihn fragten : „Was hat diese Regierung 20 Jahre lang für das Erdbeben getan?“ mit einer anderen Gegenfrage:
„Die Erde unter unserem Land ist morsch. Haben wir eine Chance, das Erdbeben aufzuhalten?“
Gute Antwort als Frage. Wer kann denn ein Erdbeben aufhalten?
Dann: Da wir das Erdbeben nicht verhindern können, wer kann dann die derzeitige Regierung dafür verantwortlich machen?
Gestern hat sich Erdogan auf die Logik berufen:
„Experten bezeichnen die beiden Erdbeben in Kahramanmaras als Erdbewegungen, die weltweit einzigartig waren.“
Da wir mit einer Erdbebenkatastrophe konfrontiert sind, die beispiellos auf der Welt sin soll, sollten wir die Erdoğan-Regierung nicht kritisieren.
Übrigens heute fährt Erdogan in die 10 Provinzen, die von der Katastrophe betroffen sind. Er hat von anderen gelernt, je größer die Katastrophe, desto effektiver ist dort der Wahlkampf.
Aber wenn Sie jetzt Kritik üben sollten, könnten Sie, wie ich, zu denjenigen gehören, die „unser Volk mit Falschnachrichten und Verzerrungen gegeneinander ausspielen wollen“, und Erdogan versäumt es nicht, mit dem Knüppel nach ihnen zu schlagen:
„Wenn der Tag kommt, werden wir das Buch öffnen, das wir derzeit führen. Unsere Staatsanwälte ermitteln gegen diejenigen, die mit unmenschlichen Methoden versuchen, soziales Chaos zu stiften.“
Zu diesen „Chaosstiftern“ zähle ich hiermit auch bestimmt.
Wir können Erdbeben nicht verhindern, aber wir können mit Sicherheit verhindern, dass Gebäude einstürzen und dass Menschen nicht unter ihren Häusern begraben werden.
Wir können Erdbeben nicht verhindern, aber wir können Menschen nach einem Erdbeben aus eingestürzten Gebäuden retten, wir können den Überlebenden eine heiße Suppe geben, wir können dafür sorgen, dass sie in einem Zelt vor Regen, Schnee und Kälte geschützt sind.
Das ist die Aufgabe der Politik, der Politiker, die Pflicht derer, die an der Macht sind.
Tausende von Menschen waren unter den eingestürzten Gebäuden gefangen, ihre Angehörigen, die lokalen Verantwortlichen, schrien vor unseren Augen „Schickt Hilfe“.
Hilfsteams, die aus dem Ausland anreisten, verloren die wichtigsten Stunden, um Leben zu retten, indem sie auf den Flughäfen stundenlang aufgehalten wurden. Es gab anscheinend keine Transportmöglichkeiten. Dabei ist in der eine große türkische Armee, marschbereit in den Krieg in Syrien einzuziehen.
Als die Arbeitskräfte mehr gebraucht wurden als „nationale Einheit und Solidarität“, saßen die Soldaten in ihren Kasernen, oder eröffneten Störfeuer auf die Kurden in Syrien, die schon unter ihren Häusern begraben waren.
Wie wird es jetzt weiter gehen? Klassisch, wie immer.
Befreundete Bauunternehmer des Präsidenten werden vorfabrizierte, provisorische Behausungen in der Region aufstellen. Die EU und die westlichen Länder werden diese finanzieren. Irgendwann werden aus diesen Provisorien Dauerlösungen.
Derweil werden in der Region wieder Hochhäuser gebaut, die wieder keiner kontrollieren wird, ob die die Bauvorschriften eingehalten wurden. Dann kommt das nächste Erdbeben.
Und es wird wieder heißen: „Es ist jetzt der Tag der nationalen Einheit und Solidarität.“