TANER AKÇAM

1923-2023: Gedanken über die Republik nach einem Jahrhundert

Der hundertste Jahrestag der Gründung der Republik ist nur noch wenige Monate entfernt. Und die Frage, was für eine Art von Republik wir wollen, steht weiterhin im Mittelpunkt. Was für eine Republik wollen wir wirklich? Eigentlich können wir es ganz einfach formulieren. Wir alle wollen eine demokratische Republik, in der jeder das Recht auf gleiche Bürgerrechte hat, jenseits ethnisch-religiöser Identitäten und Überzeugungen, eine Republik, die die Menschenrechte achtet, eine Republik, die frei über die Ungerechtigkeiten spricht, die in ihrer Geschichte geschehen sind, und Schritte unternimmt, um die geschehenen Ungerechtigkeiten zu überwinden. Es gibt niemanden, der zu diesen einfachen Forderungen nein sagen würde, und jeder will es, aber das ist seit Jahren nicht mehr der Fall.

Weil wir uns nicht im Klaren darüber sind, was das grundlegendste Problem der heutigen Zeit und seine Ursache ist. Das größte Problem der heutigen Türkei sind Ungleichheit und Ungerechtigkeit. In dieser Gesellschaft sind die Bürger nicht gleich, die Menschen haben nicht die gleichen Rechte und der Gerechtigkeitsgedanke ist ernsthaft beschädigt. Die sunnitischen Bürger der Türkei sind „gleichberechtigter“. 

Alevitische, kurdische, -und obwohl sie zahlenmäßig sehr klein sind,- christliche und jüdische Bürger sind nicht gleichberechtigt. Ihnen allen werden wichtige Staatsbürgerrechte vorenthalten. Der Grundstein für diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurde mit der Gründung dieser Republik gelegt. Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind Grundsteine unseres Fundaments, ein strukturelles Problem, das den Kern des Systems bildet.

Das Hauptproblem besteht darin, die Gleichberechtigung der BÜRGER zu gewährleisten

Aber meine Hauptthese ist, dass Gleichberechtigung auf diesem Fleckchen der Erde nicht erreicht werden kann. Dies ist nicht möglich. Denn wir sind uns nicht bewusst, dass der Grundstein für diese Ungleichheit in den Jahren der „Befreiung und Gründung“ der Republik gelegt wurde. Wir sehen nicht, dass wir es mit einem strukturellen Problem zu tun haben, das auf die Gründung der Republik zurückgeht. Ich möchte das Thema am Beispiel des Videos der Linkspartei vom 30. August aufgreifen. In dem Video heißt es: „Anlässlich des 100. Jahrestages des Großen Sieges grüßen wir den Unabhängigkeitskrieg, der den Weg für eine unabhängige Republik [Sieg] unter der Führung von Mustafa Kemal geebnet hat“. Die AKP-Regierung wird zum Totengräber der Prinzipien der Unabhängigkeit und des Säkularismus der Republik erklärt. Und die Menschen sind aufgerufen, mit der Sehnsucht nach diesen ersten Jahren der Befreiung und des Aufbaus zu kämpfen.

Wenn Sie die Macher dieses Films fragen würden, würden sie Ihnen zweifellos sagen, dass sie für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in der Türkei kämpfen. Und sie glauben, dass sie mit ihrer Sehnsucht nach den Jahren der Unabhängigkeit und der Gründung der Republik das heutige Problem der Gleichberechtigung und Gerechtigkeit lösen könnten. 

Bis heute befassen sich alle politischen Strömungen mit den Jahren der Befreiung und der Gründung der Republik hauptsächlich auf der Achse „Recht auf Souveränität – Unabhängigkeit“. Aus diesem Grund wird nicht gesehen, dass die Saat der heutigen Ungleichheit und Ungerechtigkeit bereits in den Jahren der Unabhängigkeit und der Gründung gesät wurde. Diese Sichtweise der Geschichte wird nicht nur von der Linkspartei vertreten, sondern auch von einer großen Mehrheit in der Türkei. 

Meine Hauptthese ist folgende: Die Jahre der „Unabhängigkeit und der Gründung“ sollten nicht nur im Lichte des Prinzips der „Souveränität-Unabhängigkeit“, sondern auch des Prinzips der “ Gleichberechtigung der Bürger“ und der „Gerechtigkeit“ neu beleuchtet werden. Eine erneute Lektüre der Jahre der Unabhängigkeit und der Gründung im Lichte der Prinzipien der “ Gleichberechtigung “ und “ Gerechtigkeit “ ist die Antwort auf die Frage, welche Art von Republik wir wollen. Wenn Sie wollen, dass sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf diesem Fleckchen Erde durchsetzen, müssen Sie eine neue Geschichte erzählen, die die Gründung und Befreiung der Republik nicht auf „Unabhängigkeit“ und „Souveränität“ beschränkt, sondern auch „Ungleichheit“ und „Ungerechtigkeit“ in sich trägt.

Der Ursprung des Problems: Die Geschichte von Unabhängigkeit und Staatsgründung, die wir bereits auswendig kennen

Die Wahrheit, die wir erkennen müssen, ist, dass die Geschichte von Gründung und Befreiung, die wir alle auswendig kennen, nicht ausreicht, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Ein Großteil der Bürger findet sich in dieser Geschichte nicht mehr wieder. Dies ist einer der Hauptgründe für die aktuelle politische Krise in der Türkei. Die Hauptgeschichte, die wir alle auswendig kennen, ist diese: „Die Befreiung und Gründung dieser Republik war ein Existenzkampf aus dem Nichts gegen innere und äußere Mächte, die das Vaterland spalten wollten“. Mit anderen Worten, es geht darum, das Recht auf Souveränität und Unabhängigkeit zu erlangen. Diese Geschichte ist nicht allumfassend, sie verdeckt die heutigen Probleme und verhindert, dass wir erkennen, dass der Grundstein für die heutigen Probleme in den Jahren der Unabhängigkeit und der Gründung gelegt wurde. Mein Vorschlag ist einfach: Wenn Sie wollen, dass die heutige Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufhört und wenn Sie eine neue Republik wollen, brauchen Sie eine neue Geschichte der Unabhängigkeit und der Gründung.

Wir identifizieren uns jedoch so sehr mit der Geschichte, die wir auswendig gelernt haben, dass wir sogar unsere eigene Gegenwart durch die Brille dieser Jahre der Gründung und Befreiung betrachten. Heute denken wir, dass der Krieg der Befreiung und des Aufbaus immer noch nicht vorbei ist. Wir glauben, dass wir die Probleme von heute lösen können, wenn wir uns mit den Helden der Geschichte identifizieren. Wie Sie sich vielleicht erinnern, definierte die linke Generation von 1968 ihren Kampf als den zweiten Befreiungskrieg und sah sich selbst als die zweite Kuvayi Milliye (Nationale Kampfverbände, die zu Beginn der Besatzung Anatoliens den Kampf aufgenommen hatten – Anm.d.Übers.) . Als die AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) die regierende islamistische Partei Erdogans-Anm.d.Übers.)  in den 2000er Jahren an die Macht kam, riefen die CHP, die Ergenekonisten (Nationalistische Geheimbündler, die Anfang der 2000er Jahre versucht haben, die damalige AKP-Regierung zu stürzen) versucht haben und Gruppierungen, die sich als säkular definierten (ein bedeutender Teil der Aleviten), zu einem zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen die AKP auf und erklärten, sie seien die Kuvayi Milliye. Nach den Gezi-Ereignissen 2013 waren die AKP-Kreise an der Reihe, sich als Kuvayi Milliye zu bezeichnen. Sie definierten ihren „Krieg“ als den zweiten Befreiungskrieg. Kurz gesagt, dieses Verständnis reproduziert die Ungleichheit der Bürger in diesem Land, dessen Grundlagen in den Jahren der Befreiung und Gründung der Republik gelegt wurden. 

Das Projekt „1619″ der New York Times

Im Jahr 2019 hat die New York Times ein Projekt gestartet, in dem behauptet wird, dass die USA nicht 1776 gegründet wurden, wie allgemein bekannt ist, sondern 1619 mit der ersten Schar von Sklaven, die aus Afrika gebracht wurden. Die These des Projekts ist ganz einfach: Es ist unbestreitbar, dass die USA als Ergebnis eines antiimperialistischen Krieges gegen die Briten ein freies und unabhängiges Land wurden. Aber diejenigen, die behaupten, die USA seien nur als Ergebnis eines „Unabhängigkeits- und Freiheitskrieges“ gegen die Briten gegründet worden, vertuschen in Wirklichkeit ein anderes Merkmal der Gründung. Der amerikanische „Unabhängigkeitskrieg“ wurde auch zum Schutz der Sklaverei geführt. Einer der wichtigsten Gründe für die Beteiligung der Südstaaten an diesem Krieg war die Möglichkeit des imperialistisch-kolonialistischen Englands, die Sklaverei in den Kolonien abzuschaffen. Um den Süden auf ihre Seite zu ziehen, stimmten die Nordstaaten zu, den Schutz der Sklaverei zur Grundlage der Gründung zu machen. Als Amerika seine Unabhängigkeit erklärte, enthielten daher mindestens drei Artikel der ersten Verfassung Bestimmungen zum Schutz der Sklaverei. Mit anderen Worten: Neben der Unabhängigkeit wurde die Ungleichheit, d.h. die Sklaverei, zum Gründungsprinzip dieser Verfassung und der amerikanischen Gesellschaft.

Die New York Times argumentierte, dass einer der wichtigsten Gründe für den heute in Amerika vorherrschenden Rassismus darin besteht, dass der Rassismus (das System der Sklaverei) strukturell in die Gründung Amerikas eingebettet war. Die Befreiung und Gründung der USA konnten nicht allein durch den antiimperialistischen Kampf gegen die Briten erklärt werden. Die strukturelle Akzeptanz der Ungleichheit der Bürger – Sklaverei, Rassismus – war ein weiteres Merkmal dieses Prozesses. Um den heutigen Rassismus zu bekämpfen und auszurotten, sei es daher notwendig, auf die Gründungsjahre zurückzublicken und eine neue Geschichte der Gründung zu erzählen, die den Rassismus einschließt. Und sie argumentierten, dass die Führer der Bürgerrechtsbewegung zu den Gründern Amerikas gezählt werden sollten.

Ich denke, dass die Situation in der Türkei ähnlich ist: Sowohl das Video der Linkspartei als auch die AKP, die MHP und die CHP, also sowohl die Regierungsparteien als auch die Opposition, stützen sich auf Gründungswerte und auf eine Gründungsphilosophie, die auf „Unabhängigkeit“ und „Souveränität“ basiert. Jede Seite beschuldigt die andere, von diesen Grundwerten abzuweichen. Devlet Bahçeli schlägt eine neue Verfassung vor, die auf den „Gründungswerten und der Gründungsphilosophie“ der Republik basiert. Die CHP organisiert Seminare zum Thema „Denken wie Atatürk“ und spricht über eine neue Republik auf der Grundlage der Prinzipien Atatürks. Die Linkspartei sagt, dass sie ihren derzeitigen Kampf fortsetzen wird, indem sie an den gleichen Werten festhält. Ich hingegen behaupte, dass diese Gründungswerte und die Gründungsphilosophie, die jede Seite der anderen vorwirft, von ihnen abzuweichen, das Hauptproblem sind.

Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind Teile der Befreiung und der Gründung der Republik

Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Armenier, Griechen und Assyrer, die in den Gründungsjahren der Republik Türkei Bürger waren, wurden nicht als gleichberechtigte Mitbürger betrachtet und ihrer grundlegenden Staatsbürgerrechte beraubt. Lassen Sie mich einige Zahlen nennen: Nach 1918 betrug die Zahl der Armenier und Griechen, die in ihre Heimat zurückkehrten, nachdem sie die Massaker überlebt hatten, fast eine halbe Million. Zusammen mit denen, die in Anatolien geblieben waren, und den Armeniern und Griechen, die Istanbul nie verlassen hatten, überstieg die Zahl der christlichen Bürger eine Million. Die Frage ist: Was geschah mit diesen Bürgern armenischer und griechischer Herkunft zwischen 1918 und 1923?

Die Antwort ist einfach: Die Kuvayı Milliye-Kräfte, das Symbol des Unabhängigkeitskampfes, griffen weiterhin die Dörfer der Rückkehrer an und töteten sie (einige Beispiele: Osmanisches Archiv, DH.ŞFR. 104/45-96-127;106-114; 108/68); türkische Armeeeinheiten, die 1922 in Izmir einmarschierten, suchten in den Häusern, in die sie eindrangen, nach Armeniern und fragten „gibt es hier Armenier“, „gibt es noch Armenier“ (Shoah, Armenian Genocide Oral History Records). Diejenigen, die ihre armenische Identität verbargen, überlebten, diejenigen, die dies nicht taten, wurden getötet. Christen wurde untersagt, innerhalb des Landes zu reisen, ihr Eigentum wurde konfisziert und sie wurden gewaltsam ins Ausland abgeschoben, indem man ihnen Pässe ausstellte, die nur die Ausreise und keine Einreise ermöglichten. Nach 1918 wurde diesen Bürgern, die nach 1918 zurückkehren durften und deren Rückkehr im Vertrag von Lausanne als Recht anerkannt wurde, die Einreise untersagt. Im April 1920 wurden christliche Bürger daran gehindert, an den Nachwahlen zum Parlament in Ankara teilzunehmen [Erlass von M. Kemal vom 17. März 1920: „Elemente, die keine Muslime sind, dürfen nicht an den Wahlen teilnehmen“].

Im September 1915 war ein Gesetz verabschiedet worden, das armenisches Eigentum zwangsweise konfiszierte. Dieses Gesetz wurde von der osmanischen Regierung am 12. Januar 1920 abgeschafft. Die Rückgabe der beschlagnahmten und geplünderten Güter wurde zugesagt. Dieses Gesetz wurde später zu Artikel 144 des Vertrags von Sèvres. Im Jahr 1919 setzten die britischen und französischen Besatzungstruppen in Istanbul zusammen mit der osmanischen Regierung verschiedene gemischte Kommissionen ein. Diese Kommissionen, die auch in Artikel 142 des Vertrags von Sèvres enthalten waren, wurden über ganz Anatolien verteilt. In den Orten, die sie besuchten, baten die Kommissionsmitglieder die lokalen Verwalter, zwei Dinge zu erfüllen. Erstens, die Rückgabe der konfiszierten christlichen Besitztümer an ihre Eigentümer. Zweitens, die Verbrecher zu benennen und zu verhaften, die an den Massakern an Armeniern im I. Weltkrieg beteiligt waren. Diese Forderungen der Besatzungsmächte drängten diejenigen, die an Massakern in Anatolien teilgenommen und armenisches, griechisches und assyrisches Eigentum geplündert hatten, dazu, sich dem Unabhängigkeitskrieg unter der Führung von Atatürk anzuschließen. 

Am 14. September 1922 hoben das Parlament und die Regierung in Ankara, das Symbol des Unabhängigkeitskrieges, das Gesetz vom 12. Januar 1920 über die Rückgabe armenischen Eigentums auf und setzten das Plünderungsgesetz des Komitees für Union und Fortschritt von 1915 wieder ein. In Übereinstimmung mit diesem Gesetz wurden die Besitztümer derjenigen, die ihre Besitztümer zurückbekommen hatten, erneut beschlagnahmt, wenn auch in begrenztem Umfang. Am 12. November 1922 wurde den Nicht-Muslimen erlaubt, ihre Immobilien zu verkaufen, ohne ins Ausland ausreisen zu müssen. Später setzte sich jedoch die Meinung durch, dass sie ausreisen sollten, ohne ihren Besitz zu verkaufen, und mit dem Beschluss Nummer 2081 vom 14. Dezember 1922 wurde den Nicht-Muslimen verboten, ihren unbeweglichen Besitz vor der Ausreise zu verkaufen. Mit anderen Worten, die Plünderei und der Raub von Eigentum durch den Staat gingen weiter. Später, mit verschiedenen Gesetzen (31.03.1926; 6.10.1927; 4.06.1932), wurde den Nichtmuslimen verboten, Beamte zu werden oder bestimmte Berufe auszuüben. In dem Land wurde ein komplettes Apartheid- und Ungleichheitsregime errichtet. (Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden Sie bei Taner Akçam, Ümit Kurt, Kanunların Ruhu, İletişim Yay.)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Geschichte der Befreiung und Gründung, die wir auswendig kennen, auch die Geschichte der Zerstörung der Bürgerrechte der christlichen Bürger dieses Landes war. Wenn wir eine neue und egalitäre Republik wollen, ist es offensichtlich, dass wir uns mit dieser Philosophie der Gründung und Befreiung auseinandersetzen müssen, die die Eckpfeiler unserer Verwaltungsstruktur gebildet hat, die die Gesetze unterwandert hat.

Für die Kurden ist die Lage nicht anders

Die Situation ist für die kurdischen und alevitischen Bürger dieses Landes nicht anders. Koçgiri im Jahr 1921, Sheikh Sait im Jahr 1925, Ağrı im Jahr 1930 und Dersim im Jahr 1938, die uns als Aufstände und Revolten beschrieben werden, waren in Wirklichkeit das Streben der Kurden und der Bewohner von Dersim nach Gleichberechtigung mit den Türken. Das Hauptproblem war, dass die Gründungskader der Republik die Gleichberechtigung der nicht-sunnitischen türkischen Bürger nicht akzeptierten. Die sunnitische türkische Mehrheit hat nicht akzeptiert, unter gleichen und gleichwertigen Bedingungen mit Nicht-Sunniten und Nicht-Türken zu leben, und tut dies auch heute nicht. Aleviten fordern daher Gleichbehandlung für ihren Glauben. Obwohl die Grundlagen der Weigerung, die Gleichheit der Bürger anzuerkennen, aufgrund des islamischen Prinzips der „Millet-i Hâkime“ (die „Herrschende Volksgruppe“- Anm.d.Übers.)  viel weiter zurückreichen, wurden sie in den Jahren der Befreiung und der Gründung gelegt. Und heute ist diese Ungleichheit wie eine Ornamentik in das Rechtssystem des Landes eingestickt. 

Wenn wir die Geschichte aus dieser Perspektive betrachten, werden wir sehen, dass Armenier, Assyrer und Griechen in der osmanischen Zeit, Aleviten, Kurden und Tscherkessen in der republikanischen Zeit nichts anderes als gleiche Rechte gefordert haben. Da wir unsere Geschichte jedoch nur mit den Kategorien der Souveränität und der Unabhängigkeit erklären, erklären wir die armenischen und griechischen Bürger der Gründerzeit zu Kollaborateuren  und übersehen, dass wir es mit einer Struktur zu tun haben, die auf Ungleichheit aufgebaut ist.

Wenn wir lernen, die Zeit der Gründung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der „Unabhängigkeit“, sondern auch der “ Gleichberechtigung und Gerechtigkeit“ zu betrachten, ist es möglich, Koçgiri, Pontus, Sheikh Sait, Ararat und Dersim als Kämpfe um Gleichberechtigung zu interpretieren. Die Sheikh Sait-Bewegung zum Beispiel wird entweder als religiöser und reaktionärer Aufstand oder als nationaler Aufstand der Kurden mit religiöser Färbung bezeichnet und diskutiert. Es gab jedoch eine große christliche Beteiligung an der Sheikh Sait Bewegung. Mehr als 10 Assyrer und 3 Armenier wurden für ihre Teilnahme an diesem Aufstand hingerichtet, mit Ausnahme derer, die ohne Gerichtsverfahren getötet und zu verschiedenen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Nach dem Aufstand flohen etwa 10 Tausend Armenier nach Syrien. Eine weitere Tatsache, die bis heute nicht bekannt ist, ist, dass während des Sheikh Sait Aufstandes auch militärische Maßnahmen gegen tscherkessische Dörfer in Westanatolien ergriffen wurden. Der Ararat war nicht nur ein kurdischer Aufstand, sondern auch ein armenischer Aufstand…

Hätten die Türken und die Herrscher der Republik akzeptiert, gleichberechtigt mit anderen zu leben, gäbe es weder die gestrigen noch die heutigen Probleme mit Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Um dies zu erkennen, muss man aufhören, das Gestern und das Heute nur aus der Perspektive der nationalen Souveränität zu interpretieren und lernen, sie unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit und Gerechtigkeit zu betrachten. Nur durch eine Geschichte, die auf der Achse von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit gelesen und erinnert wird, können wir sowohl die Existenz derjenigen verstehen, die damals ausgegrenzt wurden, ihre Geschichten zu einem Teil der Geschichte der Staatsgründung machen, als auch ein Staatsbürgerschaftsrecht entwickeln, das heute auf Gleichberechtigung basiert.

Zum Schluss: Was wir brauchen, ist ein soziales Gespräch, eine Bereitschaft zum Zuhören

Diejenigen, die keine sunnitischen Türken waren, wurden nicht nur ihrer Staatsbürgerrechte beraubt. Auch ihre Geschichten wurden nicht beachtet. Ihr Leid und ihre Zerstörung wurden ignoriert. Sie können keine Republik errichten, die den Schmerz und die Zerstörung eines bedeutenden Teils ihrer Bevölkerung ignoriert und ihnen nicht die grundlegendsten Bürgerrechte zugesteht, und wenn die Republik dies doch tut, wird sie zusammenbrechen. Wenn ein bedeutender Teil der Bevölkerung in der von Ihnen erzählten Geschichte der Befreiung und der Gründung der Republik nichts Eigenes finden kann, wird er sich dieser Gesellschaft nicht zugehörig fühlen, und das wird der Vorbote des Zerfalls sein. Aus diesem Grund ist eine Perspektive, die sich auf “ Gleichberechtigung und Gerechtigkeit “ konzentriert, die das Leiden der Christen (Armenier, Griechen, Assyrer), Juden, Aleviten und Kurden anerkennt und diese Leiden in die Geschichte der Gründung und der Befreiung einbezieht, unerlässlich. Wir brauchen eine Geschichte der Befreiung und des Aufbaus, in der sich die Leiden, nicht die Siege und der Heroismus, wiederfinden können.

Ich würde dies gerne als „bereit sein, dem anderen zuzuhören“ definieren. Die Türkei leidet unter einem ernsthaften Gesprächsdrang und ein gesellschaftliches Gespräch ist unvermeidlich. Es ist wichtig, den Geschichten derjenigen zuzuhören, die Opfer von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geworden sind, und diese Geschichten zu einem Teil der Befreiung und des Aufbaus zu machen. 

Was ich vorschlage, ist nicht nur eine neue Geschichte der Befreiung und des Aufbaus. Darüber hinaus sollten die Menschen, die seit der Gründung für Gleichheit und Gerechtigkeit gekämpft haben, auch als die Gründer dieses Landes und der neuen Republik betrachtet werden. Alişer aus Koçgiri, İhsan Nuri, das Symbol des Ağrı-Widerstands, Seyit Rıza, der legendäre Führer von Dersim, Hrant Dink und Tahir Elçi sollten zu den Gründern dieser neuen egalitären und auf Gerechtigkeit basierenden Republik erklärt werden. 

Für eine Republik, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit beseitigen wird, ist es unerlässlich, eine neue Gründungsgeschichte zu erzählen und ihre neuen Gründer zu erklären.

(übersetzt von Kamil Taylan)

Dieser Artikel ist der Vortrag, der in der Earth Day Gruppe am 17. Dezember 2022 gehalten wurde. Sie können die Rede und die Diskussion in türkischer Sprache unter diesem Link ( https://www.youtube.com/watch?v=0tqz2JHB6F0 ) verfolgen.

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